KAPITEL V

Stadtplan

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von Lena Reitz und Hauke Fischer

Von 1896 bis 2024

Darmstädter Kinos im Wandel der Zeit

Die Wahl des Kinostandorts ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg des Betriebs. So befindet sich das jüngste Kino Darmstadts Kinopolis kaum zufällig direkt am Hauptbahnhof. Die Kinos Helia und Rex liegen in der Innenstadt, direkt am belebten und auch verkehrstechnisch wichtigen Zentrum um den Luisenplatz. Kinos sind mehr als nur Orte, an denen Kinofilme gezeigt werden. Sie sind Räume der Begegnung und des sozialen Austauschs. 

Im Verlauf der letzten 120 Jahre des Lichtspielbetriebs hat die Dichte der Darmstädter Kinobetriebe stetig abgenommen. Heute verfügt die Stadt über ein Multiplex und einige wenige Urgesteine, die zum Teil noch den Charme alter Kinowelten versprühen. Doch wie kam es zu diesen Veränderungen? Wie sah die Darmstädter Kinolandschaft früher aus? Und wo befanden sich die Kinos eigentlich? 

Das späte 19. Jahrhundert:
Erste Kinos in Darmstadt

1896. Seit einigen Monaten haben Filmvorführungen in Deutschland Fuß gefasst, zunächst als Wanderkinos. Auch in Darmstadt fanden Wanderkinos großen Anklang. Parallel etablierten sich feste Kinematographen in Gaststätten und Theatern.

Als Vorbote des Darmstädter Kinos gelten die sogenannten Kaiser-Panoramen, zunächst in der Wilhelminenstraße 29 (später Luisenplatz 1) und im Hotel Darmstädter Hof (Grafenstraße 22). Doch schon im Herbst 1896 konnten die Darmstädter die wirklich bewegten Bilder bestaunen: „Edison‘s neueste Erfindung. […] Lebende Photographien in natürlicher Grösse, mittels elektronischer Beleuchtung“, hieß es im Darmstädter Tagblatt vom 22. Oktober 1896. Die Werbung galt dem neuen Kinematographen im städtischen Saalbau. Auch das Varietétheater Orpheum, das zuvor noch als Rollschuhbahn diente, zeigte kurze Filmsequenzen.

Der Film wird sesshaft –
Erste Ladenkinos in Darmstadt.

1. Juli 1907. Für die Darmstädter Kinogeschichte beginnt ein neues Kapitel. An der Ecke Rhein- und Grafenstraße eröffnet Ludwig Weber Darmstadts erstes ortsfestes Kino – das Edison-Theater. Ein typisches Ladenkino, in dem Besucher:innen Autorennen, Dramen und Komödien sehen können. Wenige Monate später öffnete am Marktplatz bereits der erste Konkurrent: das Tonbild-Theater. 

Damit sind die ersten Darmstädter Ladenkinos früh dran, denn in Deutschland gab es überhaupt erst ab etwa 1905 ortsfeste Kinos. Wanderkinos zogen weiterhin umher.  Anton Rose reiste sogar noch bis 1933 mit mobilem Projektor und Saal durch die Region.

Gekommen, um zu bleiben:
Darmstädter Traditionskinos.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg ging es schnell: Immer mehr ortsfeste Kinos entstanden in Darmstadt. Nur zwei Jahre nach Eröffnung des Edison-Theaters gründeten sich in Darmstadts Innenstadt zwei weitere Kinos: das Olympia-Theater (1909) und das Residenz-Theater (1909).

Straßenbahn und Lichtspieltheater.
Wie Mobilität und Kino in Darmstadt zusammenhingen.

Viele der frühen Darmstädter Kinos befanden sich in der Nähe des Luisenplatzes, dem Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Ein Fußweg von nur zehn Minuten reichte, um aus dem Zentrum gleich mehrere Kinos zu erreichen. Von dort aus konnte man ab 1912 auch zum Darmstädter Hauptbahnhof fahren, der in diesem Jahr eröffnet wurde. Durch die Verbindung zwischen Bahnhof und Darmstädter Innenstadt war es nun auch Besucher:innen von außerhalb möglich, die Kinos der Innenstadt zu erreichen. 

Mit dem Ausbau des Straßenbahnnetzes in der Innenstadt siedelten sich die Kinos zunehmend auch in den Straßen an, die die Straßenbahn anfuhr. Besonders sichtbar wurde dies in der Ernst-Ludwig-Straße, entlang der sich gleich mehrere Kinos niederließen. 

Kinos der Vorstadt: Arheilgen und Eberstadt bekommen ihre eigenen Kinos

In Darmstadt und Umgebung zeigte man großes Interesse an der Kinolandschaft. So eröffneten schon bald auch in Arheilgen und Eberstadt, damals noch keine Stadtteile von Darmstadt, erste Kinos.

In Eberstadt gründete sich in der Pfungstädter Straße 7 im Gasthaus „Zur Harmonie“ 1915 das Erste Eberstädter Lichtspiel-Theater. Wenige Jahre später, am 7. März 1919, eröffnete Philipp Volk im Gasthaus „Zum Bismarck“ die Volks-Lichtspiele. Am 16. August 1919 lud im Hinterhof eines Anwesens in der Heidelberger Landstraße 211 das Odeon zur ersten Filmvorführung. Zunächst von Georg Rossmann geführt, übernahmen später andere Familienmitglieder den Betrieb. Die Volks-Lichtspiele konnten sich gegen das Odeon jedoch nicht durchsetzen. Nach nur zwei Jahren schloss das Kino wieder. Das Odeon hingegen wurde 1938 umgebaut und näherte sich in Ausstattung und Komfort den Kinos der Innenstadt.

In Arheilgen hatte 1919 die Firma Wich & Kämmerling um eine Genehmigung gebeten, ein neues Kinematographentheater im Saal des Gasthauses zum „Grünen Baum“ zu errichten. Ein Jahr später war es dann so weit: In der Dieburger Straße 2 eröffnete unter dem Namen Biograph-Filmtheater Arheilgens erstes Kino. Mehrfach änderte es seinen Namen, von Biograph-Filmtheater zu Orpheum zu den Kammer-Lichtspielen, bis es 1949 schließlich in Casino-Lichtspiele umbenannt wurde. Unter diesem Namen war es bis zu seiner Schließung 1972 bekannt.

Zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus

1933. Nach der Weltwirtschaftskrise stiegen die Kinobesucherzahlen schnell wieder an. In Darmstadt zeigte sich dies im Ausbau des Union-Theaters und der Wiedereröffnung des Residenz-Theaters am Weißen Turm. Zusätzlich gründete sich nur einige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in einem Bessunger Hinterhof das Belida.

Blütezeit im Nationalsozialismus

In den Dreißigerjahren florierte die Darmstädter Kinolandschaft. Zwischen 1933 und 1936 weisen Statistiken mehr als 700.000 Kinobesucher aus. Bis 1940 stiegen die Zuschauerzahlen auf rund 1,8 Millionen Kinobesucher.

Am 5. November 1938 eröffnete in der Dieburger Straße 26-28 eines der wenigen Kinos Darmstadts, das nicht direkt in der Innenstadt lag: Das National-Theater. Etwas abseits vom Zentrum entstand aus dem umgebauten Mathildenhöhesaal das Kino. Kurze Zeit später wurde es in Thalia-Theater umbenannt. 

Die Nationalsozialisten nutzten die Darmstädter Kinos nun auch für Propagandaevents. Immer wieder rückten zu prominenten Erstaufführungen Polizeikapelle und Stimmungsmacher aus der NSDAP an. Zur Premiere von „Hitlerjunge Quex“ am 21. September 1933 im Union hieß es zwei Tage später im Darmstädter Tagblatt:

„Das Theater war festlich geschmückt, Bäume und Blattgrün umrahmten die Embleme der Freiheitsbewegung und die Bildnisse des Führers. Hitlerjugend stellte Ehrenwache im Aufgang und Fahnenabordnungen auf der Bühne. Und Hitlerjungen sangen ihre Marschlieder zur Einleitung, bliesen Fanfaren und schlugen tapfer die altdeutsche Trommel. Oberbannführer Bloch hielt eine feurig-kernige Ansprache […]. Musikvorträge der Polizeikapelle unter Obermusikmeister Buslau füllten die Pausen und begleiteten am Schlusse das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied.“ 

Die „Brandnacht“. Darmstadts Kinos in Flammen

In der Nacht vom 11. auf den 12. November 1944 fielen über 286.000 Bomben auf Darmstadt. Der Angriff dauerte nur knapp 25 Minuten, die allerdings dafür ausreichten, dass große Teile Darmstadts inklusive der Stadtteile Arheilgen und Eberstadt zerstört wurden. Die sogenannte „Brandnacht“ forderte tausende Menschenleben und hatte zahlreiche Sach- und Gebäudeschäden zur Folge.

Diese Aufnahme zeigt die Ernst-Ludwig-Straße nach der „Brandnacht“. Die Gebäude der Straße waren fast vollständig zerstört. Hier befanden sich ebenfalls Kinos, wie etwa das Residenz-Theater. Dort, wo das „Resi“ ursprünglich stand, ist nur noch eine Ruine zu erkennen. Das Residenz-Theater brannte bis auf sein Fundament nieder, weshalb das Kino auch nicht wieder aufgebaut werden konnte.

In den Nachkriegsjahren blühte das Kino in improvisierten und wiederaufgebauten Sälen schnell wieder auf. Alltagsflucht und die Suche nach Zerstreuung trieben die Darmstädter:innen in großer Zahl in die Kinos. Am Belida zum Beispiel bildeten sich bei vielen Vorstellungen lange Warteschlangen vor dem Tickethäuschen.

Zweite Kinoblüte.

Rückgang und Schließungen der Darmstädter Kinos

Seit Ende der Sechzigerjahre waren die Zuschauerzahlen rückläufig. Mit dem Aufkommen des Fernsehens gingen die Menschen seltener ins Kino. Zusätzlich sorgte die Krise der Filmproduktion auch für eine Krise des Kinos. Kinobetreiber mussten regelrecht um ihre Besucher:innen kämpfen – auch gegeneinander.

Dabei gingen viele Kinos zugrunde. „Die Hälfte der alten Kinos blieb bei diesem ökonomischen Darwinismus auf der Strecke“, hieß es am 5. November im Darmstädter Echo. Die Stadtteilkinos in Arheilgen, Bessungen und Eberstadt hatten zudem mit dem Erstaufführungsrecht der Darmstädter Innenstadtkinos zu kämpfen und wurden irgendwann unrentabel. Aus den ehemaligen Kinosälen wurden Cafés, Einkaufszentren oder Diskotheken. In Bessunger Belida zum Beispiel befindet sich heute der Club Huckebein.

Vormarsch des Helia

Das seit 1927 bestehende Helia-Lichtspieltheater wurde in seiner Geschichte mehrmals erweitert, verändert und umgebaut. Zwischen 1973 und 1978 erfolgte der bisher größte Schritt in der Helia-Geschichte: die Erweiterung zum Helia-Center mit der heute noch immer bestehenden Heliapassage, die ab 1981 eine Verbindung zum Rex ermöglichte. Mit diesem Ausbau wappnete sich das Helia gegen mögliche Konkurrenten mit vielen Sälen, die zwar kleiner waren als zur Zeit der großen alten  Kinopaläste, aber vielen unterschiedlichen Vorlieben der Besucher:innen Rechnung tragen konnte.

Jeder Quadratmeter wurde genutzt. So erinnert man sich noch heute daran, dass das Helia 4 eigentlich ein Zwischenfoyer mit Spielautomaten werden sollte. Wer nicht über solche Umbaumöglichkeiten verfügte, spürte schon bald den Druck. Schließen mussten das Europa in der Luisenstraße und das City in der Schulstraße.